22. November 2018

Schuldet ihr die Ärztin eine Million?

Berner Regionalgericht muss in erster Instanz entscheiden

Mit einer Plazenta- oder einer Fruchtwasser-Punktion und anschliessendem Gentest hätte die Erbkrankheit des Kindes diagnostiziert werden können.

Mit einer Plazenta- oder einer Fruchtwasser-Punktion und anschliessendem Gentest hätte die Erbkrankheit des Kindes diagnostiziert werden können.

_Abtreibung «verpasst» – Klage auf Schadenersatz wegen Kind_ «Atifete B.» hätte ihre erbkranke Tochter abgetrieben, wenn ihre Ärztin die entscheidenden Untersuchungen nicht «unterlassen» hätte. Ganz nüchtern vom rechtlichen Standpunkt aus betrachtet, geht es um eine Frage der Arzthaftpflicht. Von der gesellschaftlichen und ethischen Tragweite her geht es um wesentlich mehr.
Vom «Blick» ausfindig gemacht: die klagende Mutter «Atifete B. (44) aus Jegenstorf BE». – «Blick am Abend»

Vom «Blick» ausfindig gemacht: die klagende Mutter «Atifete B. (44) aus Jegenstorf BE». – «Blick am Abend»

Der «Schaden» im vorliegenden Fall ist ein Kind, das im kommenden Februar bereits zwölf Jahre alt wird. Das Mädchen hat die Erbkrankheit «Cystische Fibrose (CF)», eine nicht heilbare Stoffwechselerkrankung. Ein Grossteil der Betroffenen erreicht heute das Erwachsenenalter und kann trotz hohem Therapieaufwand ein erfülltes Leben führen. Für Kinder, die im 21. Jahrhundert geboren sind, wird heute eine mittlere Lebenserwartung von rund 50 Jahren angenommen. Auch der sechs Jahre ältere Bruder des Mädchens hat CF. Und das ist genau der Punkt: Wenn nämlich bekannt ist, dass beide Eltern Träger des mutierten Gens sind, können eine Plazenta- oder eine Fruchtwasser-Punktion und der anschliessende Gentest mit hoher Sicherheit Aufschluss darüber geben, ob das Kind krank ist oder nicht. Die Ärztin von «Atifete B.» aber «unterliess» es offenbar, die Schwangere über diese Möglichkeit aufzuklären – weshalb die kranke Tochter nicht abgetrieben wurde.

Ersatz für den kompletten «Schaden»

2010 erhob «Atifete B.» zum ersten Mal Anklage gegen ihre Frauenärztin. Eine Genugtuung von 50 000 Franken wollte sie. Das Berner Obergericht sprach ihr im Jahr darauf 30 000 zu. Separat für ihre Tochter erhielt sie aber nichts (siehe Kasten unten).

Mittlerweile – «Berner Zeitung» und «Blick» machten im Oktober 2018 darauf aufmerksam – hat die Mutter einen zweiten Anlauf vor Gericht genommen. Sie will mehr: Diesmal verlangt sie von ihrer Frauenärztin Ersatz für den kompletten «Schaden», den das erbkranke Kind ihr durch seine Existenz verursachen wird – bis zu einer Million Franken. In erster Instanz wird das Regionalgericht Bern-Mittelland entscheiden müssen.

Grenzen ärztlicher Aufklärungspflicht

Die Frage nach dem «Kind als Schaden» und ob daraus folgende Schadenersatzansprüche berechtigt sind oder nicht, wird juristisch kontrovers diskutiert. In bisherigen Schweizer Gerichtsurteilen deutet einiges darauf hin, dass «Atifete B.» Chancen haben könnte, mit ihrer neuen Klage durchzukommen.

Mamma.ch hat Vertrauensanwälte des Vereins Mamma um ihre Einschätzung gebeten. Sie bringen einen sehr interessanten Aspekt zur Sprache: Abtreibung ist ja gar keine «klassische» ärztliche Handlung, genau genommen sogar nicht einmal «erlaubt», sondern höchstens «straflos»! Sie fragen: Kann es vor diesem Hintergrund für den Arzt überhaupt eine Pflicht zur ungefragten Aufklärung über mögliche Untersuchungen geben, wenn im Krankheitsfall die einzige mögliche Gegenmassnahme eine nicht erlaubte Handlung darstellt (nämlich die Abtreibung)? Hier gilt es doch, der Aufklärungspflicht Grenzen zu setzen!

Negative Auswirkungen

Nehmen wir einmal an (wir hoffen es nicht!), «Atifete B.» erhält vom Gericht Schadenersatz zugesprochen: Der gesellschaftliche Druck auf die Ärzte nähme weiter zu – «lieber einen Test und eine Abtreibung zu viel, als dann mit einer Klage konfrontiert werden»! Eine gerichtliche Bestätigung des hässlichen Etiketts «Kind als Schaden» würde zudem auch wieder eine latente Diskriminierung chronisch kranker und behinderter Menschen in der Gesellschaft fördern.

Nicht zu vernachlässigen sind ebenso die negativen Auswirkungen auf die unmittelbar betroffenen Kinder und Familien. «Meine Mutter fordert eine Million, weil sie mich vor der Geburt nicht beseitigen konnte» – so oder ähnlich muss die Tochter von «Atifete B.» schon jetzt denken. Wie wird sich eine solche Mutter-Tochter-Beziehung weiterentwickeln? Es ist fraglich, ob die Million die Familie wesentlich glücklicher machen würde. Vergebung, Liebe und Dankbarkeit wären vermutlich besser geeignet. Das Leben einer Familie mit zwei CF-betroffenen Kindern ist medizinisch und auch finanziell herausfordernd. Das wird niemand in Abrede stellen. Doch muss es in unserer Gesellschaft Möglichkeiten geben, einer Familie in einem solchen Fall auf eine Weise zu helfen, die auch Lebensrecht und Menschenwürde des ungeborenen Kindes zu schützen weiss.

Kein Recht auf «Nichtgeboren-Werden»

Klagen abgelehnt. Es gibt Juristen, die meinen, mit der geltenden «Fristenlösung» könne eine Frau einen Anspruch darauf geltend machen, nicht (lebend) gebären zu müssen.

Demgegenüber kennt das Schweizer Recht definitiv keinen Anspruch des Kindes darauf, nicht geboren zu werden. Daher haben die Schweizer Gerichte bislang auch alle entsprechenden Klagen abgelehnt – so auch das Berner Obergericht in seinem Urteil 2011 eine separate Klage auf Genugtuung für die Tochter von «Atifete B.».